Schauerfeld - Mitteilungen der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser
- 14. Jg. 2001 Heft 2/3

Rainer Hendricks

Reiseführer?!? "Äu-ßerst-merkwürdich !!"
"So hängt alles viel enger zusammen als man denkt" (Günter Eich)

"Aus dem freundlichen Gärten Lilienthals zu unserer Linken lugten wohnliche, auch im Äußern sauber gehaltene Häuser hervor, von jener Höhe, die früher die Bauten des alten Klosters Lilienthal und später, kurz vor der französischen Zeit, die Sternwarte des als Astronom berühmt gewordenen Amtmanns Schröter trug [...] Als wir hinter der Murken'schen Wirthschaft in Lilienthal das am linken Wörpeufer liegende freundliche Gehölz erreicht hatten, fanden wir es gerathen, einige Minuten auszusteigen [...]."

Ho ho, wer errät es? - Nein, eine Kahnpartie anläßlich der GASL-Tagung 2000 war es nicht. - Arno Schmidt im Torfkahn2 während der Lilienthal-Exkursion im Oktober 1957 ? - Der Ausflug nach Lilienthal findet sich im Kapitel "Zwei Wasserfahrten zu den Heidehöhen im Teufelsmoor" im 4. Band der Heidefahrten von August Freudenthal.3

"Der St. Jürgenskirche, die mit ihrem Kirchhof und Pfarr= und Küsterhause auf hoher Wurt oder Warf belegen ist und während unserer Canalfahrt uns, als Warte aus der Umgebung hoher Eichen hervorleuchtend, stets vor Augen gewesen war, wandten wir uns jetzt zu. Wir erstiegen den 'Kirchhof', wie die landläufige Bezeichnung für diese Insel mit ihren Bauten lautet, von dem an der Nordseite vorbeiführenden Wege aus. [...] Die alterthümliche Pfarrwohnung mit freundlichem Gärtchen liegt am Ostende, die Küsterwohnung am Westende der Wurt, die Kirche nimmt die mitlere Nordseite derselben ein, der Friedhof die Südseite. In der Küsterwohnung, wo wir uns den Schlüssel zur Kirche erbaten, hatte ich die Freude, in dem Küster und Lehrer Reimers einen alten Seminarkollegen wiederzufinden. [...] Unter einer der alten Eichen seines Gartens feierten wir bei einigen Flaschen Bier die alte Bekanntschaft, um dann zur Besichtigung des Innern des 'Kirchleins des St. Georg im Lande der Gräser' zu schreiten."4

Zunächst zu den Heidefahrten: August Freudenthal (geb. 1851, gest. 1898) lebte vorwiegend in Bremen und war als Lehrer, Journalist und Redakteur tätig. Seine Reisebeschreibungen erschienen in vier Teilen zwischen 1890 und 1897 unter den Titeln "Ausflüge in die hohe Heide und in das Flußgebiet der Böhme", "Ausflüge am Nordost- und Südwestrand der Lüneburger Heide", "Ausflüge in die Flußgebiete der oberen Luhe und Oertze und in die Heide des ehemaligen Stiftes Verden", "Ausflüge in die Wurster Heide, in das Land Uelzen und zu den Heidehöhen im Teufelsmoor". Der vorliegende Band wurde 1983 als Nachdruck von der Freudenthal-Gesellschaft e.V. (Rotenburg) im Kommissionsverlag der Missionshandlung Hermannsburg neu aufgelegt. Erste Beobachtungen zeigten, daß die Heidefahrten recht verbreitet und in etlichen Buchhandlungen der Heidestädtchen zu haben sind. Die folgende Themensammlung zwischen den Heidefahrten und dem Werk Arno Schmidts legen den Verdacht nahe, daß ihm diese Reisebeschreibungen in seiner Cordinger Zeit, möglicherweise als Leihexemplar, vorgelegen haben; im Bibliotheksverzeichnis von Dieter Gätjens sind diese nicht aufgeführt.5

Die "Heidefahrten" wegen der Schilderung von Lilienthal und St. Jürgen mit Küsterhaus gleich als "Bädeker für Arno Schmidt"6 zu betiteln scheint bis zu diesem Punkt eher gewagt; doch es geht noch weiter.

Vom Cordinger Mühlenhof ausgehend starten wir zu einem hypothetischen Ausflug in die nähere und weitere Umgebung, die uns aus Schmidts Werk bekannt und auch in den Heidefahrten zu finden ist:

Die Pulvermühle in Bomlitz7 begegnet uns im Faun "(Eine ‹Pulvermühle› ist tatsächlich schon 1812 drauf, wo jetzt die Eibia steht. Sicher noch früher)."8

Auf dem Weg nach Visselhövede, dem Ort des Hainbündlers Samuel Christian Pape,9 mehrfach in Schmidts Werken präsent, werden die Waldgebiete des Herrn von Behr durchquert. "Herr von Baer (oder wie der Besitzer sonst heißt): ich danke Ihnen für die Überlassung dieser Waldstücke"10 ruft der Protagonist in Schwarze Spiegel. Bereits 1470 wurde die Familie Behr mit der Wasserburg in Stellichte belehnt. Die Familie erbaute 1610 die reichverzierte Gutskirche gleich neben der Wassermühle. Stellichte wurde selbstverständlich auch von Freudenthal besucht.11 In der Nähe spielt auch eine Stürenburg-Geschichte, dazu später mehr.

"Ahlden und Rethem zum Beispiel : liegen bestimmt ganze Berge; Walsrode vielleicht auch; eventuell Stellichte, beim Herrn von Baer-" doziert Landrat Dr. von der Decken im Faun.12 Was eigentlich nicht nötig war: Düring alias Schmidt kannte diese Orte durch seine Tandemfahrten für die Fouque-Materialsammlung. Bleiben wir noch beim Faun: nach dem mittäglichen "Stullen malmen" dreht Düring in seiner Pause noch eine Runde durch Fallingbostel "Dann noch die Mühle mit der Böhme, und das Denkmal Quinti Icilii."13 Freudenthal schreibt über dieses Denkmal: "Oberamtmann Heinrich Guichard, genannt von Quintus=Icilius, [...] von den Eingesessenen des Amtes Fallingbostel und der Landgemeinde des Kirchspiels Soltau, 1864."14 Apropos Soltau: am Ortsausgang steht das Tetendorfer Kreuz, wo ein eingeschlafener Schäfer von einem Schafbock seiner Herde getötet worden sei. Diese Geschichte kennen wir aus dem Steinernen Herzen15 und bei Freudenthal nimmt diese ein eigenes Kapitel ein.16 Das Verdener Blutbad des Jahres 782 begegnet uns im Steinernen Herzen und bei Freudenthal.17

In Sachen Hermann Löns ist der Fall klar: den mochte Schmidt nicht ("ich bin ja nu mal ein Heidedichter, allerdings etwas anderer Art als Fritz von der Leine, nich?"18).

Weiter oben fiel das Stichwort Stürenburg: lange schwamm Düring im Grundlosen See, ganz in der Nähe der Kolonie Hünzingen.19

Am "Grundlosen" schläft Vermessungsrat a.D. Stürenburg ein und erlebt in der Erzählung "Kleine Graue Maus" einen merkwürdigen Traum.20 Die geodätischen Themen Stürenburgs führen unweigerlich zu Carl Friedrich Gauss, der auch an der Braker Basis beteiligt war. Zwei der Triangulationspunkte der Landesvermessung kennen wir von der Rückseite des Gauß gewidmeten Zehnmarkscheins: den Falkenberg und den Wilseder Berg. Beide TP mit ihren imposanten Vermessungstürmen werden bei Freudenthal ausführlich beschrieben.21 Die weiteren 32 Vorkommen von Gauss in Schmidts Werken zu betrachten, würde an dieser Stelle zu weit führen.

Im dritten Buch erzählt Freudenthal dann von einem Ausflug nach Hermannsburg und die Missionsanstalten. Was hat das mit Schmidt zu tun? - Na, begleiten wir August Freudenthal bei seiner Besichtigung der alten Hermannsburger Kirche: "Über dem Altar befindet sich die Kanzel, und über dieser ist das Modell der 1853 für 14 000 Thaler von dem Baumeister Styrie erbauten Brigg 'Candaze' angebracht, die leider schon 15 Jahre später seeuntüchtig wurde."22 - "Potz Louis Harms & Candaze!"23 wir sind in Schmidts Schule der Atheisten gelandet! Leibl Rosenberg liefert zur Candaze weitere Belege in seinem Hausgespenst.24

In der ländlichen Erzählung Piporakemes! fährt die Reisegesellschaft durch einen unheimlich anmutenden Waldweg:25 "Aber Wir schteigen Alle aus [...]" und steht dann vor einem beschrifteten Felsblock. " 'Hier ruht - [...] Jedemfalls Forstmeister von & zu. Inmittn der von ihm geschaffenen Wälder. [...] erschossen von ruchlosen Wilderern, in der Dämmerung des Soundsovielten [...]". Im Vergleich dazu bei Freudenthal:26 "Nun verließen auch wir den Wagen, erkletterten den Schutzwall, der die Raubkammer umgiebt, und drangen in das Föhrendickicht vor. [...] Der Stein ist nicht weiter bearbeitet auf der unserm Wege zugekehrten Seite trug er die mit wenig Sorgfalt eingehauene und durch schwarze Farbe leserlicher gemachte Inschrift: 'Moritz von Zarnhausen erschossen 1590' ".

Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. In der Nähe Lilienthals gehen Dorfgründungen auf den berühmten Moorkolonisator und Baumeister Johann Christian Findorf zurück. Solche Pläne gab es auch für das Ostenholzer Moor; dort hatte sich Schmidt am 24. März 1958 ein Bauernhaus in Osterholz-Scharmbeck zwecks Miete angesehen, um dort LILIENTHAL zu schreiben.27 Findorf wird im Faun28 sowie im Essay29 und Dialog30 zu Samuel Christian Pape - Vergessene Dichtung aus Moor und Heide erwähnt. Mit einem Ausflug nach Osterholz-Scharmbeck und dem Findorf-Denkmal beendet August Freudenthal den vierten und letzten Teil seiner Heidefahrten.

Dem Autor ist bewußt, daß mit diesen Zeilen nicht der Beweis einer Lektüre dieser Heidefahrten durch Arno Schmidt angetreten werden kann; er möchte vielmehr Hinweise und mögliche Verbindungen aufzeigen. Interessant wäre ein Abgleich des zusammengetragenen Materials mit den Tagebüchern der Schmidts und den darin erwähnten Ausflügen mit und ohne Tandem.

Literatur:
Schmidt, Arno: Seelandschaft mit Pocahontas. BA I/1
Schmidt, Arno: Lilienthal 1801, oder Die Astronomen. Fragmente eines nicht geschriebenen Romans. Unter Mitarbeit von Susanne Fischer hrsg. von Bernd Rauschenbach.
Freudenthal, August: Heidefahrten. Für Freunde der Heide geschildert. Freudenthal-Gesellschaft, Rotenburg 1983. Nachdruck Bd.I, 1906; Bd.II, 1892; Bd.III, 1894; Bd.IV, 1897 hier IV/ S.157, 155
Stint. Literatur aus Bremen. 2. Jahrgang Nr.3 / Mai 1988
Rathjen, Friedhelm: Lesezeichen nach Triest in: Zettelkasten 16, 1997 S.285ff
de Boutemard, Christoph Suin: "... und zeigte uns 'n BÄDEKER vom Paradies" Anmerkungen zu Arno Schmidts Reiseführern in: Zettelkasten 18, 1999 S.155ff
Schmidt, Arno: Aus dem Leben eines Fauns BA I/1
Schmidt, Arno: Schwarze Spiegel BA I/1
Schmidt, Arno: Das steinerne Herz BA I/2 S.37
Schmidt, Arno: Vorläufiges zu Zettels Traum. zitiert nach Uwe Schwagmeier: "(: this way to Etymshausen"
Rosenberg, Leibl: Das Hausgespenst. Ein begleitendes Handbuch zu Arno Schmidt "Die Schule der Atheisten"

Anmerkungen:
1 Schmidt, Arno: Seelandschaft mit Pocahontas. BA I/1 S.397
2 Schmidt, Arno: Lilienthal 1801, oder Die Astronomen. Fragmente eines nicht geschriebenen Romans. Unter Mitarbeit von Susanne Fischer hrsg. von Bernd Rauschenbach. hier: S.21 (Chronologie) Tagebucheintrag Arno Schmidt 2.10.57: "Morgens: Wörpe=abwärts bis zur Mündung in die Wümme. / Dann Fahrt im alten Torfkahn W.=aufwärts 1 Stunde & wieder zurück"
3 Freudenthal, August: Heidefahrten. Für Freunde der Heide geschildert. Freudenthal-Gesellschaft, Rotenburg 1983. Nachdruck Bd.I, 1906; Bd.II, 1892; Bd.III, 1894; Bd.IV, 1897 hier IV/ S.157, 155
4 Freudenthal IV/S.169/170 Arno Schmidt hatte sich mit Schreiben vom 22.10.1957 als Küster an St. Jürgen beworben und vom Pfarrer Schulz eine Absage erhalten. Die Briefe wurden veröffentlicht in: Stint. Literatur aus Bremen. 2. Jahrgang Nr.3 / Mai 1988 siehe auch: Lilienthal S.22 (Chronologie) vom 22.10.1957 und 15.11.1957
5 siehe hierzu auch Rathjen, Friedhelm: Lesezeichen nach Triest in: Zettelkasten 16, 1997 S.285ff
6 de Boutemard, Christoph Suin: "... und zeigte uns 'n BÄDEKER vom Paradies" Anmerkungen zu Arno Schmidts Reiseführern in: Zettelkasten 18, 1999 S.155ff
7 Freudenthal I/S.113
8 FAU BA I/1 S.336
9 Freudenthal I/S.65-71 und III/S.148
10 SSP BA I/1 S.215
11 Freudenthal I/S.77
12 FAU BA I/1 S.323
13 FAU BA I/1 S.304
14 Freudenthal I/S.103
15 StH BA I/2 S.37
16 Freudenthal I/S.52-54
17 Freudenthal II/S.225-228
18 Schmidt, Arno: Vorläufiges zu Zettels Traum. S.4 zitiert nach Uwe Schwagmeier: "(: this way to Etymshausen" S.248:
19 Faun BAI/1 S.343
20 BA I/4 S.82
21 Freudenthal I/S.145-149 und I/S.178-187
22 Freudenthal III/S.126 siehe auch III/S.119; dort erfolgt eine genauere Reisebeschreibung der Brigg Candaze
23 KAFF S.289 zitiert nach Rosenberg, Leibl: Das Hausgespenst. Ein begleitendes Handbuch zu Arno Schmidt "Die Schule der Atheisten". S.156
24 Hausgespenst S.156
25 PIP BA I/3 S. 411
26 Freudenthal III/S.67
27 LILIENTHAL 1801 S.24 (Chronologie)
28 FAU BA I/1 S.339
29 BA III/3 S.117
30 BA II/1 S.175